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Blau

Johannes Kormann @ DespairedDemiurge
Johannes Kormann @ DespairedDemiurge

Mein Block ist weiß. Zu gerne zeichne ich auf ihn meine Vorstellungen, Hoffnungen und Träume. Die Dinge, die mich faszinieren und die ich liebe. Er ist mein ständiger Lebensbegleiter. Von Tag zu Tag zeichne ich besser und erfreue mich an meinem Fortschritt. Doch oft rutscht mir mein Bleistift aus bei unerprobten Zeichenstilen. Keine Zeit für Frust, zur Rettung kommt mein Radiergummi! Was ich falsch gemacht hatte wird gnadenlos ausradiert - so gut es geht - und wieder beschönigt. Auf ein Neues versuche ich mich an dem Detail, jetzt etwas schlauer als zuvor und mit neuen Tricks im Repertoire. Oder mir kommt eine neue, wagemutige Idee beim Beheben meiner Fehler und ich zeichne auf das getilgte Stück eine neue Kombination aus Kurvenschwüngen und Zacken. ‚Das hätte ich mir auch früher denken können!‘, ärgere ich mich hin und wieder. Doch nur im Spaß, schließlich lerne ich mit jedem missglückten Strich und jedem verworfenen Gedanken dazu. Meine Freude am neu Erlernten überwiegt den Ärger über den Fehler und die verschwendete - nein, gut investierte Zeit.

Doch wie ich so träumerisch aus dem Fenster neben meinem Bett starre und vor mich hinzeichne, merke ich wie an manchen Stellen meines Blocks das Papier dünn wird, vermutlich durch das häufige Radieren. So wie ich nunmal bin, sehe ich hier zwar grundsätzlich ein Problem, das auch, aber viel mehr noch eine Herausforderung, dieses zu lösen und sogar noch etwas besser zu machen als zuvor. Also wechsele ich auf unbenutzte Seiten meines Blocks, die noch keinen Strich tragen und sich bereits einsam fühlen müssen. Ich entschuldige mich ausgiebig für die Vernachlässigung – zu meinem Glück sind sie nicht wütend auf mich! –, bevor ich auch sie mit neuen Ideen und Vorstellungen verziere. Ich stehe besser da als zuvor, mit mehr Platz zum Zeichnen!

 

Dann jedoch eines verhängnisvollen Tages, an dem ich mich an einer recht verzwickten Kombination aus hartem Strich, detailliertem Ausfüllen und Schattierung versuche, bricht mir mein einziger Bleistift ab. Der Druck auf ihn war zu groß. Im ersten Moment bin ich entsetzt: Ein Problem von diesem Ausmaß ist mir noch nie untergekommen! Aber dann atme ich tief durch und beruhige mich. Ich erinnere mich selbst wieder an meine übliche Vorgehensweise: ‚Wenn dir ein Fehler unterläuft oder ein unerwartetes Problem auftaucht, ärgere dich nicht. Nutze die Gelegenheit zu lernen und behebe ihn, mach es gleich besser als zuvor!‘ Gesagt, getan. Also grüße ich eine der netten Personen, die oft an meinem Fenster und der Tür vorbeilaufen und mit denen ich mich gerne unterhalte, wenn ich mich nicht wie so oft gedanklich in der Welt meiner Zeichnungen verloren habe. Ich bitte die Person um einen Gefallen und sie verspricht mir, meiner Bitte nachzukommen, auch in Bezug auf längere Lebensdauer des Schreibutensils und der Gefahr des Abbrechens. Sie geht los, um meinen Auftrag zu erfüllen.

Das Warten fällt mir schwer. Es kribbelt unruhig in meinen Fingern, dann in meinem ganzen Körper. Normalerweise lasse ich den Stift den ganzen Tag lang über das Papier tanzen. Aber wie lange lebe ich schon so? Habe ich jemals etwas anderes getan? Ich musste meine Finger beschäftigen und ließ sie über die Wand wandern, verschönerte sie mit unsichtbaren Zeichnungen. Aber ich schaffte es, die Wartezeit geduldig zu ertragen. So ruhig es ging. Bald würde mein neuer Stift ankommen, sagte ich mir. Ich dehne in freudiger Erwartung meine Gelenke und pfeife angestrengt. Ich warte gespannt, wann wird er kommen. Aber war da nicht noch was anderes? Etwas das mich betrifft? Etwas, das mir entfallen ist, obwohl es wichtig war? Aber dann wäre es doch wohl kaum wichtig, wenn ich es vergessen konnte? Nein da gibt es nichts, ich bin einfach ein Mensch, der gerne zeichnet. Wer bin ich denn schon. Aber wer bin ich denn schon? Nein, ich vermisse nur das Zeichnen. Sobald ich wieder Stift und Papier in der Hand habe, werden mich solche Gedanken wieder in Ruhe lassen. Ich will nur Zeichnen, alles andere kann mir egal sein. Nur Zeichnen. Ich will nichts anderes. Sollte er nicht schon längst da sein? Nur Zeichnen. Ich kann nicht mehr warten, nur Zeichnen. Aber ich muss. Nur Zeichnen. Verschwindet aus meinem Kopf, ihr Gedanken! Nur Zeichnen. Bitte! Nur Zeichnen. Ich kann euch nicht hören. Ich kann euch nicht hören. Ich kann euch nicht hören. Das bin nicht Ich. Nur Zeichnen. Nur Zeichnen. Nur Zeichnen. ICH WILL DOCH ….

Nurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnennurzeichnen.

 

***

 

Ich schrecke auf. Ein Klopfen an meiner Tür. Wie viel Uhr ist es, welcher Tag? Sinnlose Fragen. Die Tür. Sie tritt ein und begrüßt mich, in weiß gekleidet wie alle und immer. Sie hat es. SIE HAT ES. Ich bedanke mich überschwänglich. Mehrfach. Bis sie endlich geht und mich alleine lässt. Das Paket ist in Fetzen zerrissen und mein neuer Schatz blitzt mich verführerisch an. Endlich. Er ist da, mein glänzender Füller inklusive Tintenfass. ER IST DA! Ich kann wieder zeichnen und noch mehr. All die Möglichkeiten, die mir diese Neuerung bescheren wird… Mein Herz schmilzt. Anders kann ich es nicht beschreiben, soviel Glück fließt durch meine Adern und pumpt sich durch meinen Lebensmuskel. Ekstase. Schöner geschwungene Linien. Schnelleres Ausfüllen. Etwas sparen und ich werde mir eine neue Farbe holen können. Und dann noch eine. Lebt wohl einfarbige Zeichnungen! Jetzt kann ich mein komplettes Potenzial ausleben. Aber keine Angst, ich werde euch nicht vergessen. Ihr werdet alle noch einen schönen neuen Anstrich bekommen. Mir laufen Tränen aus den Augenwinkeln und ich schluchze etwas. Ich freue mich so unglaublich, es ist als würde mir der Verstand versagen! Eilig bereite ich mein neues Werkzeug zur Benutzung vor. Mein Block auf den Tisch, der Füller, das Tintenfass. Es wird schwer werden sich an die Feder zu gewöhnen, aber die Möglichkeiten sind es allemal wert. Ich werde vorsichtig sein. Die Feder taucht sich ins Fass. Ich ziehe sie zur Seite, zum Blatt, will beginnen.

 

Das Tintenfass fällt um.

 

Blau verteilt sich über den Block. Es gluckert. Mein Block saugt alles auf. Er ist blau. NEIN! Ich stoße das Fass zur Seite, der Block, der Block. Ich muss ihn retten, meine Zeichnungen mein Lebenswerk. Neinneinnein, ich darf euch nicht verlieren! Weg mit dem verdammten Blau! Weg, weg, weg!…

Es ist zu spät. Alles ist blau. Jede Zeichnung. Jede Seite. Meine Hände. Mein Gesicht. Alles was ich je hatte ist blau. Nur blau. Nur Blau. NUR BLAU. Ich packe den Block und werfe ihn an die weiße, mit Polstern versehene Wand. Es klatscht und spritzt. Ein blaues Rechteck im weißen Raum. ICH HASSE DICH! Es reicht nicht. Ich werfe meinen Schreibtisch um, gegen die Tür und zertrümmere das Tintenfass an ihr. Wie könnt ihr es wagen mir meine Existenzgrundlage zu stehlen? Ich schreie und kreische. Ausgerissene Haare liegen auf dem Boden. Ich habe Flecken an Armen und Beinen und Kopf. An Boden und in den Wandpolstern sind Kratz- und Bissspuren. Alles ist mit Blau übersehen. Ich weine. Ich schluchze. Ziehe die Nase hoch und jammere die Welt an. Ich verfluche sie und für ihre Folter mich in die Welt gesetzt zu haben.

Wieso?!

Die Fragen kehren zurück und ich kann sie nicht mehr vertreiben. Was habe ich falsch getan? Wieso habe ich das verdient? Rasierklingen, die meine Gedanken durchschneiden und mich wie ein angeschossenes Tier wieder Brüllen und Schreien lassen. Wieso noch weiterleben? Wieso, wenn alles was ich getan habe mir tot gegenüber liegt und mich blau anstarrt! Der tote Körper jault und heult. Eine Kakophonie aus Stimmen in meinem Kopf. Meine Sicht ist verschwommen. Ich brülle dagegen an und kreische, bis mir die Stimme bricht. Aber sie sind lauter als ich. Meine Stimme ist lauter als ich. Ich bin lauter als die Person, die ich erfunden hatte. Kein Entkommen. Kein Entkommen vor mir. Ich sinke zu Boden. Rücken an der Wand. Hände an dem Kopf. An den Ohren. Hände vor den Augen. Der Füller ist in meiner Hand. Dieses verdammte Teufelswerkzeug. Blau tropfend.

Es soll mir zumindest in einer Sache dienen. Seine Zerstörung vollenden.

Es klopft und hämmert an der Tür. Erst rufen, dann schreien sie. Ich höre es nicht. Sie treten dagegen. Holz splittert. Es ist mir egal. Mein Schreibtisch versperrt den Weg. Ich lege an, der letzte Strich. Und lasse ihn los, den Füller. Er fällt zu Boden wie ich. Meine weiße Jacke ist versaut. Die Feder tropft Rot und Blau.

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