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Haben Sie einen Augenblick Zeit?

Patricia McCarty @ pexels.com
Patricia McCarty @ pexels.com

*klopf klopf*

 

Ich springe von meiner Couch, renne durch den Flur und blicke durch den Türspion. Zwei Jungen in weißen Hemden, schwarzen Hosen stehen auf meiner Veranda. Beide tragen lächerliche Fahrradhelme auf dem Kopf. Ich ziehe meinen pinken Morgenmantel zu, löse die zwei Schlösser, die ich zusätzlich zum Türschloss angebracht habe und öffne meine Türe, soweit die Kette mit der ich sie verriegelt habe es zulässt.

 

„Was wollt ihr?“, frage ich die beiden mit einem misstrauischen Blick auf die Bibel in ihrer Hand.

„Haben Sie zu unserem Herren und Retter Jesus Christus gefunden?“, schnarrt mich Pickelgesicht Nummer eins mit einer mädchenhaften Stimme an.

„Nein.“ Ich stecke mein Gesicht durch den Türspalt. „Und ich will auch keine Bibel kaufen, falls ihr mir eine andrehen wollt“, antworte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen, den Blick auf Pickelgesicht Nummer zwei gerichtet, der seinen Mund schon bedrohlich weit geöffnet hat. „Und jetzt macht dass ihr wegkommt“, zische ich sie an und schlage meine Türe zu.

 

Ich atme tief durch und blicke zurück zu dem Mann, der mit weit aufgerissenen Augen und eine Waffe umklammernd hinter der Türe steht. Sein teilweise zerrissenes, ehemals weiß-blau kariertes Hemd ist mit Flecken nicht-identifizierbarer Flüssigkeiten bedeckt. Zum Glück habe ich keine Schwarzlichtlampen in meinem Haus, die meine Vermutungen bestätigen könnten, welche einige der Flecken betreffen.

„Gute Antwort“, meint der Bärtige mit langen Haaren, der so aussieht, als wäre er gerade aus einer Irrenanstalt oder Entzugsklinik geflohen. Er geht zurück in mein Wohnzimmer und kniet sich vor den Tisch hin, auf dem neben mehreren leeren Whisky-, Wein- und Bierflaschen und einer Bong ein Spiegel mit kleinen Häufchen von weißem Pulver liegt. Irgendetwas ist wirklich schief gelaufen mit ihm, denke ich, als ich mich zurück in meinen Sessel fallen lasse und den Fernseher mit der Kindersendung wieder einschalte, die er sehen wollte. Teletubbies. War ja klar, was sonst würde er anmachen. Er summt die Titelmelodie gedankenverloren mit.

 

Es war eigentlich ein ganz normaler Sonntagmorgen als ich ihn fand. Ich zog mir meinen Morgenmantel an, kam die Treppe von meinem Schlafzimmer herunter, machte mir einen Tee und wollte mich eigentlich gerade zum Zeitung lesen auf die Terrasse setzen - da sah ich ihn. Ich habe ihn im ersten Moment verständlicherweise für einen Penner gehalten, der bei mir einbrechen wollte; völlig aufgelöst in meinem vom Regen der vorherigen Nacht aufgeweichten Komposthaufen liegend, mit einem schwarzen Aktenkoffer neben ihm. Das erklärte zumindest einige der Flecken. „Die kriegen mich nicht, nein, die kriegen mich nie! Niemals!“, murmelte er unter nervösen Zuckungen immer wieder zu sich selbst.

Ich beobachtete diese Szene gute fünf Minuten lang sicher von meinem Wohnzimmerfenster aus, schlürfte ein wenig Tee, verbrühte mir jedoch bei dem Versuch die Zunge, bis er sich etwas beruhigt hatte und nun regungslos auf der Wiese mit den Augen starr gegen den grauen Morgenhimmel gerichtet auf dem Rücken lag. Ich ging vorsichtig auf ihn zu und tippte ihn sanft mit der Spitze meiner Hausschuhe an. „Alles klar bei Ihnen?“, ich sah ihn schief an. Bescheuerte Frage, so wie der aussah, war offensichtlich nichts klar bei ihm. Ich kniete mich neben ihn, er atmete schwer, und schnippte mit meinen Fingern vor seinem Gesicht. Seine geweiteten Pupillen starrten in meine Richtung. Sagen wollte - oder konnte - er anscheinend nichts.

Nach einigen Sekunden weiteren Grübelns, fragte ich ihn schließlich: „Wollen Sie vielleicht einen Tee? Oder vielleicht besser einen Kaffee?“ Er schreckte hoch und fasste mich an der Schulter, woraufhin ich ungefähr die Hälfte meines Morgengetränks auf sein Hemd verschüttete. Die Tatsache, dass der Tee noch praktisch kochend heiß war, schien ihn nicht zu stören.

 

„Du bist keiner von denen oder? Bitte sag, du bist keiner von denen“, er blickte nach einem Anzeichen von denen - wer auch immer die sein mochten - suchend um sich.

 „Wer sind die?“

„Fanatiker, Verrückte, Gottesanbeter“, er senkte seine Stimme auf ein Flüstern: „Gläubige.“

„Ehm… nein, ich gehe nicht in die Kirche, falls Sie das meinen“, aber was meinte der sonderbare Kerl eigentlich?

Er blickte sich erneut um. „In Ordnung, ich glaube ich bin sie los. Bin ihnen gerade so entkommen“, fügte er knapp hinzu.

 

Er wirkte mehr als suspekt. Seine Augen strahlten eine unangenehme Unruhe aus. Die Pupillen waren unnatürlich geweitet. Ihm haftete ein seltsamer Geruch an. Eine Mischung aus Katzenpisse, Gras und … Zement? Ich schob meine Zweifel vorerst beiseite.

Wer auch immer er war, irgendwie hatte ich das Gefühl, ich sollte ihm helfen. Zumindest würde ich mir das an seiner Stelle wünschen. Zudem machte er den Eindruck eines verlorenen Kindes, trotz seines Rauschebarts und den verfilzten Haaren. „Nun kommen Sie erstmal rein, dann Frühstücken wir etwas und Sie erzählen mir ein bisschen was über sich.“ „Klingt gut“, antwortete er erfreut über mein Angebot, rappelte sich auf und ging vor mir durch meine immer noch offene Terrassentüre.

 

Wie sich später herausstellte befanden sich ein Pfund Koks, drei Pfund Gras, sowie eine Jack-Daniels-Flasche und circa 50.000$ in Hundert-, Fünfzig- und Zwanzig-Dollar-Noten in dem Koffer, dessen Inhalt inzwischen auf meinem Wohnzimmertisch lag, zusammen mit dem Inhalt meiner Schnapsbar. Außerdem hatte er eine Walther PKK im Gürtel stecken. Das wusste ich zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht, sonst hätte ich ihn nicht hereingebeten.

Bei einem Kaffee erzählte er mir ein bisschen über sein Leben. Er hatte eine schwere Kindheit gehabt und die Zeit danach war auch nicht viel besser gewesen, trotzdem war er eigentlich ganz in Ordnung. Von einigen Macken und dem exzessiven Drogenkonsum mal abgesehen.

 

***

 

Diese Geschehnisse des letzten Wochenendes gehen mir noch einmal durch den Kopf, während ich zusehe, wie er seine verschwitzten Hände an der verdreckten Jeans abstreift und eine Hundert-Dollar-Note zu einem Röhrchen zusammenrollt.

 

„Die suchen mich schon seit Ewigkeiten“, sagt Jesus nervös, biegt sich den Rücken durch und streckt seine Arme bevor er sich über den Tisch beugt. „Ich sag es dir, Martin, seit mein Vater mich wieder zurück geschickt hat, vor zweitausend Jahren, habe ich keine ruhige Minute“, erklärt er, während er sich das Koks in die Nase zieht. Seine Pupillen weiten sich noch mehr - keine Ahnung wie das bei seinen Augen überhaupt möglich war, die bereits zur Hälfte schwarz waren. Die Iris ist kaum noch erkennbar. Er schreckt hoch und kratzt sich an seinem zerzausten Bart. „Die ganze Zeit will irgendjemand was von mir. ‘Hilfe ich kann nicht mehr sehen!’, ‘Heile mich!’, oder ‘Ich bin besessen, mach was dagegen!’“, plappert er vor sich hin und schüttelt genervt den Kopf. „Scheiße. Ich bin doch nicht die Wohlfahrt! Nachdem ich gekreuzigt wurde habe ich eigentlich nur noch versucht von all dem loszukommen und ein bisschen Spaß zu haben. Du bist wirklich der erste, der mich mit nichts nervt und zur Abwechslung mal mir hilft. Danke, dass du mich vor diesen beiden Kirchgängern bewahrt hast, Martin. Wenn mein Vater herausbekommt, dass ich immer noch hier unten bin, bekomme ich mächtigen Ärger.“

„Kein Problem. So hab ich mal ein bisschen Abwechslung und gute Gesellschaft.“

Ich genehmige mir einen kräftigen Schluck aus einer der Schnapsflaschen deren Inhalt ich sofort wieder auspruste. Definitiv kein Schnaps. Da er Wasser in Wein verwandeln kann, nach Belieben auch in Branntwein oder andere Spirituosen, pisst er des Öfteren in die Flaschen und verwandelt das Ganze dann wieder in Whisky. Das wäre zwar grundsätzlich noch irgendwie vertretbar, aber manchmal vergisst er den letzten Schritt.

„Warum kannst du nicht einfach in die Küche gehen und die Flaschen mit Wasser auffüllen?“, frage ich angewidert und blicke auf die in meinem Wohnzimmer verteilten Spritzer des Flascheninhalts.

„Können ja, wollen nein. Deine Couch ist einfach zu gemütlich”, erwidert er mit einem Schulterzucken. „Du wirst es überleben.“

Ich rümpfe die Nase und lasse die Diskussion auf sich beruhen, da er sowieso alle zwanzig Sekunden vergisst, worüber wir geredet haben. Und wenn er sich erinnert und wild mit der Pistole in seiner Hand gestikuliert, will man sich auch nicht unbedingt mit dem Sohn Gottes anlegen.

„Wie lange bleibst du eigentlich noch hier?“ frage ich laut und lasse meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Die Vorhänge sind zugezogen, der Teppich ist inzwischen beinahe genauso fleckig wie Jesus‘ Hemd und im ganzen Zimmer verteilt liegen Pappkartons von Lieferpizzen und dem Asia-Imbiss um die Ecke.

„Willst du mich etwa auch loshaben?“, fragt Jesus und blickt mich mit dem unschuldigen Gesichtsausdruck eines Welpen an.

„Oh, nein, das meinte ich gar nicht”, sage ich nervös. Meine Augen ruhen auf Jesus’ Waffe. „Ich wollte fragen wie lange du hier auf der Erde bleiben willst und warum du überhaupt hier hergekommen bist“, führe ich meinen Gedanken weiter aus.

„Ach so, ja, ich sollte auf Geheiß meines Vaters nach dem Rechten sehen, aber habe beschlossen meine Arbeitsreise noch ein wenig zu verlängern. Ich find’s zugegeben recht nett hier unten. Die Drogen, die Frauen, die Aufregung. Die ewige Glückseligkeit wird auf Dauer auch langweilig. Aber besonders lange werde ich nicht mehr in deinem Haus bleiben.“

„Bist du nochmal hier hergeschickt worden, oder bist du die ganze Zeit geblieben?“

„Ich habe euch nie verlassen, mein Sohn.” Er malt mir mit seinen ungewaschenen Fingern ein unsichtbares Kreuz auf die Stirn und lacht. Dann fällt ihm der Ernst der Lage wieder ein. „Wenn mein Vater das mitbekommt…“, es schüttelt ihn. „ Meine Verfolger habe ich dank dir fürs erste abgeschüttelt, also kann ich mich bald auf den Weg machen“, beantwortet er meine Frage.

„Du warst also nicht zwischendurch mal wieder... oben? Wie ist es denn da so und wie kommt man da hin?“, frage ich.

„Nein, wie gesagt, ich mag’s hier unten. Da oben ist es langweilig. Die Hölle stelle ich mir interessanter vor. Wie man da hinkommt? Man muss sterben.“ Er sieht mich an, als würde er mit einem Kind reden, das nicht versteht, dass Herdplatten Aua machen.

 

*klopf klopf*

 

„Scheiße, schon wieder? War ich vorhin nicht deutlich genug?“, wundere ich mich zu Jesus gewandt und gehe zur Türe. Ich entriegle alle Schlösser, bis auf die Kette und öffne sie einen Spalt breit.

„Guten Tag Mr. Johnson, wir sind die Zeugen Jehovas, und wollten Sie fragen ob Sie bereits zu unserm Herrn und Retter Jesus Christus gefunden haben“, meint eine der beiden älteren Damen. „FUCK!“, höre ich einen Ruf aus dem hinteren Teil meines Hauses.

„Nein. Und wenn Sie noch einmal klingeln rufe ich die Polizei!“, entgegne ich entnervt und schlage ihnen die Türe vor der Nase zu. Aus meinem Wohnzimmer erschallt das Klirren von Flaschen und wiederholte Fuck-Rufe von Jesus. Er war bei den Worten Jesus Christus zusammengefahren und hatte den Großteil seines Grases auf meinem Teppich verteilt.

„Ich muss weiter, Martin. Jetzt. Sofort. Hier hast du ein bisschen Geld“, er deutet auf ein Bündel Banknoten auf dem Tisch, schnippt mit den Fingern und das Bündel vervielfacht sich.

„Hey, kannst du mir zeigen wie das geht?“, meine ich begeistert.

„Nein, macht keinen Sinn, ihr Sterblichen könnt das nicht“, murmelt Jesus während er hastig seinen beachtlich geschrumpften Vorrat an Koks vom Spiegel in eine Plastiktüte schüttet - er fährt noch einmal mit der Nase über den Spiegel, um auf Nummer sicher zu gehen - und seine restlichen Drogen und Utensilien - eine Zahnbürste (unbenutzt), Kondome (benutzt), Haribo-Apfelringe (zur Hälfte gegessen) und einen Gabelschlüssel (Größe 17) - in seinen Koffer zurücksteckt. Nur das Gras lässt er auf dem Teppich. „Wir sehen uns wieder, Martin. Danke für alles”, verabschiedet er sich und geht in Richtung der Terrassentüre. Ich sehe mich in meinem Wohnzimmer um, das nun mehr oder weniger in Trümmern liegt.

„Und wo willst du jetzt hin?“, will ich ihn fragen und erhasche gerade noch einen Blick auf eine verdreckte Gestalt, die meinen Gartenzaun hochklettert und auf der anderen Seite herunterfällt. Scheiß Gartenzwerg!, ist das letzte was ich vom Sohn Gottes höre, bevor er aus meinem Leben verschwindet.

 

Inspiriert von "r/Writing Prompts 'IAmALurker'"

*knock on door*, „Sir, have you found jesus?“, „uh no. Goodbye“ *shuts door* Jesus steps out from behind door with gun and said „good answer“

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