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Herzlos

MaximoFilms @ youtube.com
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Teil 1


Mein Fuß knickt ein und ich stürze zu Boden.

Eine Hand streckt sich mir hin, makellos weiß und ohne erkennbare Narben. Geduldig verharrt sie ein Stück über mir, geradeso so tief, dass ich nach ihr greifen kann. Ich strecke meine eigene mit Dreck beschmutzte Hand aus und stütze mich, trotz der Schrammen vom Fall, an die Wand. Wut kocht in mir hoch und ich schlage erbost die dargebotene Hand zur Seite, während ich mich an der Wand hochziehe. Sein Gesicht lächelt mich weiterhin freundlich an.

Es blendet.

 

***

 

Das Licht blitzte ihn an, seine Augen brannten, sein Kopf schmerzte. Er schloss die Lider und rollte zur Seite, nur um daraufhin ruckartig vom Sofa zu stürzen. Er schlug mit dem Kopf voraus auf und stieß dabei Schnapsflaschen in alle Richtungen. Manche rollten davon und entleerten klirrend ihren restlichen Inhalt über den Holzboden. Andere zerbrachen beim Aufprall und hinterließen klebrige Pfützen, gespickt mit Scherben. Der Jugendliche stöhnte erschöpft den Fußboden an und versuchte sich wieder aufzurichten. Erst auf allen Vieren. Dann ein Fuß auf dem Boden und mit Schwung direkt in eine stehende Position. Oder eher eine schwankend-den-Kopf-haltende-Position. Ganz schlechte Idee. Was gerade noch ein dumpfer Schmerz in der Gestalt eines Lamms im Hinterkopf gewesen war, hatte sich schnell zu einem ausgewachsenen Widder entwickelt, der sein gekrümmtes Horn immer härter und tiefer in seine grauen Zellen rammte.

 

Zwischenstopp. Einmal tief durchatmen.

 

Hintern auf der Bettkante, Kopf in die Handflächen gestützt mit Blick auf den eingesauten Fußboden. „Scheiße, bei den Magenschmerzen würde es mich nicht wundern, wenn ich mir zusammen mit dem Alk auch noch was von solchen Scherben reingezogen hätte“, grummelte er. Ein hastiger Trommelwirbel schallte durch den Raum, kurz darauf begleitet von einem geschredderten Gitarrenriff und einem aggressiv klingenden Sänger. Zornig schrie dieser den Unmut über die eigene Faulheit heraus. Der Klingelton seines Lieblingssongs. Reflexartig flog die Hand des Jungen ans rechte Bein, klatschte aber nur gegen schweißnasse Boxershorts. Der blecherne Klang ging weiter – inzwischen war das Schlagzeug verstummt und der Sänger beklagte sich über eine eisige Kälte. Erst jetzt entdeckte der Jugendliche seinen Kleiderstuhl am anderen Ende des Raumes, sowie die Klamotten des gestrigen Abends, die verknüllt daneben lagen und leicht unter dem Bass des Lieds vibrierten.

Gestern Abend, dachte er und strich sich die langen Haare aus der Stirn. Ein paar Erinnerungsschnipsel tauchten vor seinem inneren Auge auf: Eine halbleere Wodkaflasche in seiner Hand, das Grinsen seiner Kumpels und eine schwach beleuchtete Gasse. Auch nicht weniger als normalerweise, dachte er achselzuckend und richtete sich auf. Sich mit der Hand den Kopf haltend stapfte er zu seiner vor Geschirr überquellenden Spüle und riss den Hahn auf.

Mit einem Ruck öffnete der Blonde eine Schranktür, nahm ein Glas und hielt es unter den Wasserstrahl, überlegte es sich dann doch anders und hängte stattdessen den Kopf darunter. Eine Aspirintablette hinterher und dann das Handy in die Hand. Doch bevor er das Gespräch annehmen konnte, verstummte das Lied. 3 verpasste Anrufe und 5 ungelesene Nachrichten, informierte ihn das Display seines Smartphones. Achselzuckend warf er das Handy zurück in den Wäschestapel und ging, sich seine restlichen Klamotten abstreifend, in das Badezimmer.

Warmes Wasser sprenkelte aus den Düsen der Dusche. In kleinen Rinnsalen floss es an seinem Gesicht herab. Ruckartig krümmte er sich vornüber und erbrach sich in den Ausguss. „Fuck“, hustete er und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Die weiße Aspirintablette wurde zusammen mit halbverdauten Bröckchen vom Sog des Abflusses erfasst und verschwand unter dem Gitter.

 

 

Nur mit einem Handtuch bekleidet schritt er aus dem Bad, schaltete seinen Plasmafernseher an und begann auf der Suche nach etwas Essbarem im Kühlschrank herum zu kramen. Ein Stück Käse hier, die Butter schien auch noch gut zu sein. Und Toast sollte er doch auch noch haben?

Erneut erklang das Schlagzeug und der Sänger meldete sich mit seinem Protest zu Wort. Entnervt wurde die Kühlschranktür zugeworfen und im Klamotten-Durcheinander gewühlt. „JA?“, schnarrte er in das Handy und durchsuchte mit der anderen Hand die restlichen Schubladen der Küche. Da war er ja, der letzte Toast! Zwar etwas verkrümmt, aber noch essbar. „Florian, Fuck… Endlich erwisch ich dich mal, Mann!“. Der Anrufer machte einen recht erschöpften Eindruck. Florian wiederum ließ sich mit seinem behelfsmäßigen Frühstück auf der fleckigen Wohnzimmercouch nieder.

 

„Yep, wer eine Audienz beim König will muss sich auf längere Wartezeiten gefasst machen.“, erwiderte er sarkastisch und bestrich gelassen seinen Toast.

„Ha, fucking HA! Für so ‘nen Scheiß hab ich keine Zeit. Hör zu Alter, es geht um den Typ von gestern“.

Er ließ sich Zeit mit der Antwort. „Jaa?“, schmatzte er durch den Toast zurück.

„Der hat wohl irgendso ‘ne Herzkrankheit oder so was und… sag mal, frisst du grad?!“ schrie die Stimme ungläubig aus dem Hörer.

 

Jetzt wurde Florian wütend. Nein, er durfte nicht in Ruhe seinen Rausch ausschlafen, nein, frühstücken auch nicht. Und was stattdessen? Sich anschnauzen lassen - und das noch dazu von Simon.

Ausgerechnet der.

„Hör mir mal gut zu, Simon“, begann Florian drohend. „Da du es wohl weder schaffst herauszurücken, weshalb du anrufst, noch deinen Platz in unserer…nein, meiner Gang kennst, rate ich dir später nochmal anzurufen und zu hoffen, dass ich den Anruf einer gewissen, nervtötenden Piepsstimme bis dahin vergessen habe.“ Nur noch ein kurzes Quietschen drang durch die Handylautsprecher, bevor Florian auflegte.

 

 

Ursprünglich waren „die geflügelten Schlangen“ der Name ihres Punkrock-Versuchs einer Band gewesen. Als er und seine Freunde jedoch feststellen mussten, dass niemand von ihnen wirklich musikalisch talentiert geschweige denn motiviert war, verlegten sich die Aktivitäten der Gruppe vermehrt auf Trinkgelage, Prügeleien und das Ausnehmen der schwächeren Hauptschüler. Und das Verticken von kleineren Mengen Zeug. Wenn auch nichts extremes: Ein paar Gramm Gras, eine Handvoll Pillen, ein wenig Pappen. Das Übliche eben. Irgendwie musste man die Trinkgelage schließlich finanzieren und ohne reiche Schnösel war die Ausbeute bei den anderen Schülern eher mau.

Florian hatte sich schon oft gefragt, wie lernwillige Schüler - eben die Art von Jugendlichen, die bei Pappen an Umzugs- oder Pizzakartons dachten und nicht an einen gelungenen LSD-Trip - auf der mit Grafitti beschmierten Absteige von Schule landen konnten, die er besuchte. Schließlich hatten noch nicht einmal die Lehrer Interesse daran irgendetwas Lehrbares zu vermitteln, geschweige denn sich für die Sicherheit von Strebern einzusetzen. Und eigentlich musste einem doch bereits bei den nach vorne hin dicker werdenden "Kippen" die die Schüler morgens vor dem Tor rauchten auffallen, was für eine Art von Absteige das hier war. Dass seine Gang noch überhaupt auf das Schulgelände gelassen wurde, grenzte an ein Wunder. Oder aber verdeutlichte die Charakterschwäche der „Aufsichtspersonen“. Vielleicht war den Lehrern aber auch einfach wichtiger einen guten Preis auf ihre Muntermacher und Freudenbringer zu bekommen, als die Regeln zugunsten von ein paar Schleimbeuteln durchzusetzen. Er lachte in sich hinein und begann mit Müslischüssel und Löffel zu hantieren. Dumme Herdentiere, allesamt.

 

Sein Handy unterbrach ihn erneut. Entnervt stieß Florian seinen Löffel zurück in die Schüssel. Das wird Konsequenzen für Simon beim nächsten Treffen haben, grummelten seine Gedanken. „So Simon, anschein-…“ begann er ruhig, wurde aber direkt von Geschrei unterbrochen. „Scheiße Florian, er ist tot! Fucking tot! Und jeder weiß es. HastduüberhaupteineAhnungwiehartamArschwirsind?!“ Das Ende ähnelte mehr einem Kleinkindgebrabbel als einem tatsächlichen Satz. „Hey hey, immer ruhig, Simon“, begann Florian. Eigentlich hatte er deutlich mehr Lust Simon zusammenzustauchen, aber anscheinend konnte das neueste Babyface von Mitglied sich mehr an den letzten Abend erinnern als er selbst. Ihm Respekt einzuprügeln musste erstmal verschoben werden.

 

„Die Gang war schon in vielen misslichen Lagen, da kommen wir zusammen schon wieder raus. Also was meinst du mit ‚er ist tot?‘ Hat unser Dealer gestern die Ecke gekratzt, wurde unser toter Briefkasten geplündert oder hast du unseren Beamer gestern während der Party geschrottet?“

„Hast du denn überhaupt ‘nen Peil, was gestern abgegangen ist?“ flüsterte die Stimme ungläubig durch die Smartphone-Lautsprecher. Ertappt.

„Der Sinn von einem richtigen Besäufnis ist, dass man sich an den Abend nicht erinnern sollte. Sonst war es wohl kaum ein richtiges Besäufnis“, schoss er zurück. Stille.

„Das Vierauge, das wir gestern ausgenommen haben. Der hatte wohl gesundheitliche Macken. Kreislauf, Herz …Scheiße, was weiß ich“, fährt Simon fort. Ahja, weil manche Streber ihre kleinen Wehwehchen haben sollen wir sie in Ruhe lassen? Was kommt als nächstes, die Krankenstation und Wohlfahrtsorganisationen der geflügelten Schlangen? Florian for president? schnaubte Florian gedanklich.

„Weißt du Simon, wenn du schon bei den ersten paar Malen, bei denen wir unsere Gangfinanzen auffrischen den Schwanz einziehst, solltest du dir vielleicht eine andere Gruppe zum Abhängen suchen. Wie zum Beispiel die Streber, die Sportler, oder auch die Barbies. Bart wächst dir ja eh keiner und einen auf Transgender zu machen ist heutzutage ja eh in. Sag mir lieber was so Schreckliches gestern passiert ist, dass ich noch nicht einmal gemütlich frühstücken kann, ohne von dir gestört zu werden.“

Wieder eine unangenehme Stille.

Oder anders ausgedrückt: eine Möglichkeit für einen Löffel Müsliflocken.

 

„Hast Recht“, flüsterte, sein Gesprächspartner. Mehr ein Hauchen als echte Worte. „Ich hab schließlich nicht angefangen ihn zu verdreschen. Ne, eigentlich hab ich nur zugeschaut. So als Zeuge, teilnahmslos. DU warst es, nicht ich. Ja, so werden es die Bullen auch sehen. Sorry. Aber selber Schuld Florian“. Ein viel zu fröhliches Pling für diese letzten Worte signalisierte den Abbruch der Verbindung. „Schlappschwanz“ nuschelte Florian und drehte die Lautstärke des Fernsehers wieder auf ein Maximum. Oder besser gesagt versuchte es. Er hatte mal wieder vergessen, dass die Fernsehboxen bei einer der Bandbesäufnisse den Alkohol schlecht vertragen hatten.

Sollte der kleine Bastard doch versuchen die Bande für so eine kleine Sache wie Strebertrimmung zu verpfeifen. Die Gang hatte noch einen Kontakt in der Bullerei. Nichts übertrieben Einflussreiches wie der Wachtmeister oder so, aber einflussreich genug um solche kleinen Pisser wie Simon bereits an der Rezeption abzufangen. Das würde er noch bereuen, bereits eine Woche nach seiner Aufnahme so etwas zu versuchen. Florian grinste. Er freute sich jetzt schon darauf mit seinen richtigen Gangmitgliedern auszuhecken, was sie mit dem Verräter anstellen würden.

 

Während er über ein paar bewährte Foltermethoden nachdachte, palaverte der Nachrichtensprecher im Fernseher weiter von irgendwelchen Wahlen vor sich hin. Zumindest wurden mehrere bunte Säulen und Kreise mit Kürzeln auf den Schirm geworfen. Andererseits zeigte die Kamera eine aufgebrachte Meute mit Schildern. Es konnte also auch genauso gut um die Aufstiegschancen eines Fußballteams gehen. Bevor er den Sender wechseln konnte, begann ein Bericht zu einem Vorfall in Florians Kleinstadt.

Interessiert setzte er sich auf und schlürfte die restliche Milch lautstark aus der Schüssel. Mit aufgeregter Gestik redete eine in die Jahre gekommene Korrespondentin auf ein Paar mittleren Alters ein, das einen verweinten Gesichtsausdruck zur Schau stellte. Selbst ohne Ton war deutlich ersichtlich, wie erbarmungslos die Reporterin in den Wunden der Beiden herumpulte.

Florian verzog angewidert das Gesicht. Die Milch schmeckte zwar etwas säuerlich, sie war jedoch nicht der Grund dafür. Ich bin vielleicht kein Heiliger, aber Leute zu treten die bereits am Boden liegen und das Ganze dann als seriösen Journalismus zu verkaufen ist einfach nur abartig. Wenigstens sag ich klar was ich von jemandem will und versteck mich nicht feige hinter so 'nem Scheiß.

 

Die Namen am unteren Bildschirmrand kamen ihm nicht bekannt vor und auch der „Vorfall“ war noch nicht schriftlich erwähnt worden. Überblende ins Studio und ein Portrait-Bild erscheint neben dem Sprecher. Ein schmächtiger Junge mit Brille und einem leichten Lächeln war darauf zu erkennen. Umrahmt von zwei schwarzen Bändern. Florian stellte seine Schüssel auf den Tisch und ging vor dem Röhrenbildschirm in die Hocke. Ihn beschlich das Gefühl, den Toten zuvor schon einmal gesehen zu haben, trotz oder gerade wegen dem Fehlen von hervorstechenden Merkmalen. So oder so, das waren zur Abwechslung mal interessante Nachrichten. Er rieb sich den schmerzenden Kopf, während das Bild zu einem holprigen Video aus höherer Perspektive wechselte.

Ach, das ist doch an der Ecke von Pete’s club, erkannte Florian. Er schüttelte amüsiert den Kopf. Die Überwachungskamera war neu. Der alte Knacker hatte es wohl inzwischen Leid, bei Raufereien vor seiner Haustür immer nach draußen zu laufen und nur die Opfer, nicht aber die Täter vorzufinden. Eine schmächtige Gestalt, mit den Händen in den Hosentaschen, kam ins Bild gestolpert. Eingezogener Kopf, Schultern hochgezogen und in gerader Linie vorbei an der Neonreklame. Nur um ungebremst in eine schwankende Gestalt zu laufen, die mit Gläsern und einer Flasche in den Händen aus der Tür stiefelte.

Florians Kopf schmerzte wie bei einer Migräne. Er hatte zwar noch nie eine gehabt, aber so musste es sich anfühlen. Er konnte vor lauter Schmerz nicht mehr klar denken, Lichtpunkte flimmerten vor den Augen auf. Das mulmige Gefühl in seinem Magen, den Jungen zu kennen, hatte sich nun in eine unangenehme Gewissheit verwandelt. Der Schwankende fiel zu Boden und beide wurden überschüttet mit seinen Getränken. Ohne groß zu überlegen, bietet der schmächtige Junge ihm die Hand an. Doch der am Boden sitzende schlägt sie weg. Florian stockt der Atem. Das war kein Déjà-vu. Er war der Andere. Seine Kopfschmerzen nahmen vollends Überhand und er stolperte zurück gegen den Tisch. Die Müslischale zerschellte auf dem Boden, sein Handy donnerte mit einem Schlagzeugsolo los. Shit, shit, SHIT , schrie er innerlich, während er auf etwas Glitschigem ausrutschte. Der Jugendliche verlor die Balance und knallte, noch mit den Armen schwankend, mit dem Hinterkopf gegen die Tischkante. Seitlich gekrümmt lag er da, der Kopf beherrscht von Schmerz, sein Blick auf der blutbefleckten Lederjacke im Eingang.

 

Eine fremde Geldbörse lugte spöttisch aus einer der Taschen.

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Kommentare: 2
  • #1

    Sabine (Dienstag, 29 Oktober 2019 19:33)

    Hi, das war eine echt spannende Kurzgeschichte! Kompliment!

  • #2

    Despaired Demiurge - Johannes (Mittwoch, 30 Oktober 2019 17:25)

    Hallo Sabine, es freut mich sehr, dass dir der erste Teil gefällt! Der nächste Part wird auch bald hochgeladen werden. Bleib gespannt!