· 

Herzlos - Teil 2

MaximoFilms @ youtube.com
MaximoFilms @ youtube.com

Teil 2


Ich rappele mich auf. Meine nasse Faust trifft sein lächelndes Gesicht. Es fühlt sich gut an. Er stürzt zu Boden, doch ich lasse nicht nach. Ich zerre an ihm. Den Geldbeutel aus seiner Tasche in Meine. Wie eine Maske spannen sich Angst und Schrecken über sein Gesicht. „Wer ist jetzt hier der Überlegene du hochnäsiger Bastard?!“, schreie ich ihn an und schlage zu, ohne auf eine Antwort zu warten. Er soll bluten. Er soll leiden. Er soll fühlen wie es ist für Müll auf der Straße gehalten zu werden. „Ja, Florian, gib’s ihm! Niemand legt sich mit den geflügelten Schlagen an“, ruft einer meiner Freunde. Noch eine weitere Faust in seinem blutigen Gesicht. Ich spüre keinen Schmerz in den Knöcheln, nur die heiß-rote Euphorie auf meinen Händen und im Kopf. Schlag für Schlag dränge ich ihm das Lächeln aus seinem Gesicht. Schon lange nachdem ich es nicht mehr sehen, nur noch spüren kann. Seine erhabene Visage.

„H-Hey, Florian. Das reicht langsam…“. Dieser überhebliche, kleine Waschlappen. Soll er doch verrecken. Ich werde zurückgezogen. „Stop! Florian, genug. Du hast seine Brieftasche doch schon.“ Als ob mich das Geld interessieren würde. Aber gezwungenermaßen wende ich mich ab. Jedoch nicht bevor ich noch einen letzten Tritt in das Häufchen Elend setzte. Ein zufriedenes Grinsen trägt mich meinen Weg nach Hause.

 

Auf dem Fernsehbildschirm flackerte die Aufnahme weiter und zeigte wie der Angreifer das Opfer in seinem eigenen Blut liegend zurückließ und mit dem Rest seiner Gruppe weiterstapfte. Der am Boden liegende rührte sich erst nicht, machte dann aber ruckartige, ziellose Bewegungen und wurde komplett schlaff. In einem Zeitraffer wurde gezeigt, wie jemand anders den Club verließ, den Jugendlichen am Boden begutachtete, einen Krankenwagen rief und dieser die leblose Gestalt abtransportierte. Florian rappelte sich auf. Das Einzige was er fühlte war Leere. Leere und Angst. So sollte das nicht Laufen. Nichts davon. Irgendjemand muss mich grad hart verarschen. Er kroch mit einer Hand am Kopf zu seiner Lederjacke und pflückte den Geldbeutel heraus.

Direkt wollte er ihn wieder fallen lassen. Er musste sich nur entfernen, vergessen. Dann würde es nie geschehen sein. Noch hatte er Zeit. Bis die Cops seine Wohnung finden würden, könnte er das Wichtigste zusammenpacken, sein Konto plündern und dann ab zum Flughafen. Er hatte eine Tante in Berlin, die würde ihn garantiert aufnehmen. Er war Familie und die ließ man nicht vor der Haustür stehen… es sei denn, sie waren polizeilich gesuchte Mörder? Scheiß drauf, lieber gleich wohin, wo ihn niemand kannte. Die Schweiz, Österreich? Nein, schlimmstenfalls würden sie ihn auch dort finden. Frankreich ging auch nicht. Er konnte kaum englisch, geschweige denn eine zweite Fremdsprache. Außerdem hatte er mal wo gehört, dass die Franzosen zu hochnäsig seien, um in etwas anderem als ihrer Muttersprache zu reden. Und England, Amerika? Da würden sie ihn nicht finden. Egal, zum Flughafen und den nächstbesten Flug. Schließlich konnten sie nur wegen ihm nicht den ganzen Flugverkehr aufhalten. Nicht wegen einem mutmaßlichen Mörder, einem Verdächtigen, nicht wahr? Er musste nur weg. Und doch war ihm im selben Moment klar, wie falsch er damit lag.

Traumtänzerei.

Vor so einer Tat konnte man vielleicht davonlaufen, aber nicht entkommen. Vielleicht den Bullen. Aber nicht sich selbst. Er zog den Ausweis heraus und schaute auf das Bild. Das selbe unauffällige Gesicht lächelte ihm entgegen, nur jünger und diesmal in Farbe. Florian lachte freudlos auf. Nicht, dass er eine Bestätigung gebraucht hätte. Den letzten Funken Hoffnung zu verlieren schmerzte trotzdem. Er durchwühlte seine Hosentasche nach einem kleinen Plastikbeutel mit Pillen und Pappen.

Ich bin wirklich das Letzte dachte er, ging zu seinem Getränkeschrank und griff nach einer Flasche Bier. Seine Hand verharrte in der Luft über dem gläsernen Hals. Er entschied sich doch für den Wodka und biss den Plastikstutzen heraus, bevor er die Flasche an den Lippen ansetzte und ein paar der Tabletten mit einem kräftigen Schluck herunterspülte. Das Allerletzte. Wie zu erwarten zerriss der Billigfusel auf dem Weg nach unten seine Kehle wie flüssiger Stacheldraht und explodierte im Magen gleich einem Molotowcocktail. Den Würgreiz mit aller Kraft unterdrückend schwankte Florian zur Tür und hielt sich am Rahmen fest. Er zwang sich einen weiteren Schluck auf. Und noch einen. Dann ein Stück Pappe. Das würde ihm beim Denken helfen, redete er sich ein. Und einen weiteren Schluck danach, bis er aufhörte zu zählen.

 

Er war nicht mehr in seiner klebrigen Wohnung, sondern irgendwo draußen. Zumindest spürte er abgesehen von der Hitze in Magen und Kopf noch eine angenehme Wärme auf der Stirn. Seine Arme und Beine kribbelten auf eine angenehme, belebende Art. Als würden sie ihm zurufen ‚Komm schon beweg dich! Lass uns rennen und springen, schwing uns durch den Wind!‘ Sein Kopf öffnete sich in alle Himmelsrichtungen und verströmte einen regenbogenartigen Schauer an Gedanken und Gefühlen. Während er weiter schwankte, betrachtete er die Bäume um sich herum. Zwar waren sie verschwommen, aber auf sonderbare Art befriedigend anzuschauen in ihrem gelb-braunen Kleid. Ihre Zweige formten zugleich müde und freundlich dreinblickende Gesichter, die ihm zuzwinkerten und erstaunt die blättrigen Augenbrauen hoben, als er die Geste erwiderte.

Wann war ich zuletzt in der Natur? Selbst im Park schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Die Campingausflüge mit meinem Dad müssen auch schon Jahre her sein. Die waren der Hammer. Besonders das eine Mal, als wir in Amerika waren und im Yellowstone Park gezeltet haben. Er hatte mir gezeigt, wie man mit dem Taschenmesser Holzschnitzereien machen kann und sich an den Sternen orientiert. Wie alt war ich da, Vierzehn? Die Sternbilder waren dort viel schöner als hier in der Stadt, vermutlich wegen der Lichtverschmutzung.

Er musste lächeln, in Gedanken an diese Erinnerung. Vielleicht war die Sentimentalität auch seinem Alkoholpegel geschuldet. Und seinem leichter werdenden Plastikbeutel.

Eigentlich war es nur deswegen so schön in dem Park, weil er mal wieder bei der Sache war, mal wieder etwas anderes im Gesicht hatte, als diesen konstant müden Ausdruck. Und er nicht ausgesehen hat wie eine lebende Leiche. Er hatte Spaß und ich freute mich, dass er mal was mit mir unternehmen wollte. Er mal ein paar Tage nüchtern war. Er konnte Sie für ein paar Tage vergessen.

Er beschloss seinen Vater bei ihrem nächsten gemeinsamen Wochenende zu einem Naturausflug zu überreden. Er hoffte, dass er das nächste Mal auch wieder allein auftauchen würde und nicht wieder mit einer neuen ‚Mutter‘. Oder überhaupt auftauchen würde.

Ich erinnere ihn an Sie. Entweder das oder er hat sich eine neue Familie gesucht. Florian wurde wütend auf seinen Vater. Auf den derzeitigen, weil er sich nicht für seinen eigenen Sohn interessierte und den damaligen, weil er nicht bei ihm geblieben war. Er nicht mit ihm den Schmerz ertragen hatte, sondern abgehauen war. Noch viel wütender war er aber auf seine Gefühle und die Tränen in seinen Augenwinkeln.

Scheiß drauf, soll er sich doch verpissen. Soll er doch zu seinen AA-Treffen gehen und sich von dem Pastor einreden lassen, er könnte neu anfangen und alles zurücklassen. Soll er doch irgendeine strunzdumme Blondine vögeln und noch blödere Dreckskinder in die Welt setzen. Das kann mir doch am Arsch vorbeigehen.

Ein Schluck aus der Flasche. Das Brennen half gegen den Zorn. Schluck für Schluck flaute er ab. Er verblasste zusammen mit den bittersüßen Erinnerungen. Und plötzlich waren die sympathischen Bäume nicht mehr da. Ein kurzes Verschwimmen wie wenn man in einem Malkasten den bereits mit Farbe vollgesaugten Pinsel in ein neues dieser Plastik-Farbkästchen tunkt.

 

Das Grün verging in einem Grau. Nur diese graue, Motivation saugende Asphaltwüste um ihn herum. Leute in Anzügen, die eilig über die Straße hechteten.Andere, die zwar keinen Anzug trugen, aber innere Uniformen mit ausdruckslosen, verachtungsvollen Mienen zur Schau stellten. Wieder andere bestehend nur aus Gehupe und wütendem Geschrei, während er durch die Straße wankte. Er kam nur schleppend vorwärts, da mit jedem Schritt seine Beine weiter im sirupartigen Grau versanken. Sie wollten ihn da behalten die klebrigen Asphaltärmchen und ließen ihn nur weiter, wenn er sie ignorierte und so tat als wolle er gar nicht vorwärtskommen. Nur dann ließen sie murrend seine schwarzen Sneaker los und verschwanden wieder in der Masse. Ungeduldig malten die Autofahrer um ihn herum geschwungene Kurven durch den Straßenstaub.

Und da wuchs vor ihm der hässliche, altbekannte Betonklotz aus dem Boden. Im Gegensatz zu der Straße hatte er nichts Lebendiges an sich. Er wirkte so tot und nichtssagend wie ein Grabstein ohne Aufschrift. Florian stellte seine zunehmend leicht gewordene Glasflasche auf den Boden und rüttelte vergeblich an der schmierigen Klinke der Eingangstür. Da kommt man einmal freiwillig. Er verdrehte die Augen. Er nahm einen Schluck und kletterte die Feuerleiter nach oben.

Hier erst konnte er den frischen Wind genießen, der ihm in der Stadt noch so sanft über den Kopf gepfiffen war. Ach was, “frisch” reichte nicht im Geringsten, um diesen Wind zu beschreiben. Es war als hätte jemand ein Minzbonbon in der Luft zerstäubt, sie damit verschmolzen und dann dieses neue, bessere Aroma in den Wind gepustet. Er trat ein paar Schritte weiter nach vorne an die Kante und leerte den letzten, enttäuschenden Schluck des Wodkas in seinen staubtrockenen Rachen. Seine Fußsohlen brannten vom stundenlangen Wandern durch die gepflasterten Straßen der Stadt. Waren wirklich schon Stunden vergangen oder doch nur fünf Minuten?

Florian blickte über die Kante und sah wie jemand vor den Schultoren aufgebracht in sein Handy schrie. Autos rasten am Eingangstor der Schule vorbei und zogen ihre stinkende Rauchfahne hinter sich her. Er wandte den Blick vom Boden ab und Richtung Himmel. Die Aussicht war glorreich. Falls es einen Gott gab, dann hatte er - zumindest heute - ganze Arbeit geleistet. Die Sonne war hinter den Wolken verschwunden und färbte sie in orangen Schein, ganz so als hätte der alte Wolkentreiber die weiße Watte in Brand gesetzt. Und nun, nachdem die Flamme erloschen war, schwelte sie langsam vor sich hin, wie der glimmende Docht einer Kerze. Nicht mehr brennend, sondern nur noch heiß. Nutzlos geworden, ohne es selbst schon gemerkt zu haben.

Sein Griff um den Flaschenhals ließ nach und das leere Gefäß stürzte, den Kopf voraus, vom Dach des Schulgebäudes. „Eins…“. Er hörte auf zu zählen, als das Glas auf dem Schulhof zerschellte. Ein nicht beschreibbares Gefühl von bittersüßer Freude übermannte ihn, als er mit dem Blick auf die Scherben am Boden seine Taschen nach mehr Gegenständen durchsuchte. Von einem Bein torkelnd auf das Andere. Nur seinen Geldbeutel fand er. Wie langweilig, da könnte er genauso gut auch einen Schuh werfen. Aber Moment, da war noch etwas anderes. Er zog es aus der Tasche und hielt es dicht vor sein Gesicht, beugte sich vor, um erkennen zu können was es war.

 

Ein schüchternes Lächeln.

Ein Gesicht und ein Name.

Ein Geburtsort und ein Geburtsjahr.

Größe, Augenfarbe, Handschrift und ein aufklappbarer Organspendeausweis mit angekreuzter Spendeerlaubnis und Blutgruppe.

Der Beweis für ein Leben und der Beweis, dass er es zerstört hatte. Kraftlos fielen ihm die Arme herab. Nur den Ausweis umklammerte er mit einem letzten Quäntchen Energie. Er wollte weinen, aber er konnte nicht. Er wollte schreien, aber seine Stimme weigerte sich. Er wollte auf die Knie fallen und seine Fäuste in den Boden trümmern, doch da war nur Luft.

Er spürte wie seine Füße kippten und die Zehen den Halt verloren. Die Arme ruderten. Er befürchtete, den Halt zu verlieren. Er hatte Angst, es nicht zu tun. Er war gesprungen oder der Wind hatte ihn gestoßen. Eigentlich ja egal. Aber da war er. Tretend in der Luft, wieder Herr über seine Sinne. Weinend flog er, schreiend fiel er. Auf der Suche nach einem Angriffspunkt zog die Luft wie ein wildes Tier ihre scharfen Krallen über sein Gesicht und bohrte sie in seine Augen. Er war blind.

 

Seine Beine trafen den Boden und brachen wie Zweige im Sturm.

Wie ein Teebeutel aus Knochen und Blut, langsam seinen Saft verlierend, lag er auf der Erde und fühlte nur Schmerz und Reue. Nicht für den Sprung, sondern für alles, was zu diesem Moment geführt hatte. In seinen Ohren trommelte der schwache Nachhall von mehreren harten Schritten wie das Intro eines Metalsongs. Der Anzugträger muss wohl den Notdienst gerufen ha… Während sein Bewusstsein erlosch, erkannte er noch neben sich einen Haufen kleiner Scherben. Sogar sein billiger Fusel war besser gefallen als er. Er fletschte ein Grinsen.

Zurück zum ersten Teil                                                                                                                         Weiter zum letzten Teil

Kommentar schreiben

Kommentare: 0