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Der Wald

Paul Bersiner @ DespairedDemiurge
Paul Bersiner @ DespairedDemiurge

Prolog


Die Steppe lag in einer schieren Unendlichkeit vor ihm. Ein ausgetrocknetes Meer aus Staub und Gras, an dessen Horizont ein Riff aus Häusern lag. Der Kirchturm stach wie eine Nadel in den Himmel. Der getreue Maulesel des Mannes war vor drei Tagen verendet, doch er hatte glücklicherweise genug Proviant in den Taschen und Wasser in den Schläuchen, um seinem Ziel zumindest etwas näher zu kommen. Er leerte seinen vorletzten Wasserschlauch und warf ihn auf den Boden. Der würde ihm ohnehin nichts mehr nutzen und unter der brennenden Hitze der Sonne war er froh um jeden Ballast, den er sich sparen konnte. Hinter ihm erstreckte sich vom toten Esel bis zu seinen Füßen eine Spur Brotkrumen aus leeren Wasserschläuchen und dem Papier, in dem sein Pökelfleisch verpackt gewesen war. Für Verfolger musste er ein leichtes Ziel sein, doch er glaubte nicht, dass ihm irgendjemand folgte. Zumindest sah er keinen Grund dafür. Er hatte schließlich nichts verbrochen und sich auch nicht auf andere Art unbeliebt gemacht. Er wischte seine vom Schweiß klebenden schwarzen Haare aus dem Gesicht und setzte seinen Weg fort.

Falls jemand hingegen von seinem Ziel wusste, würde er vermutlich eine ganze Meute auf seinen Fersen haben. Manche nannten es Nirvana, andere die Erleuchtung. Für ihn war es schlicht das Ziel seines Lebens. Er wusste, es war etwas monumentales, eine einzigartige Erkenntnis, etwas weltveränderndes. Wie lange er noch laufen musste, bis er es erreichte, war nicht klar, doch zumindest am Dorf dürfte er morgen ankommen, wo er sich neu orientieren konnte. Er wusste ja selbst nicht, wohin er musste, und da ihm keine bessere Idee kam, lief er einfach immer stur geradeaus. In Gedanken verloren hatte er gar nicht bemerkt, dass die Sonne nun schon knapp über dem Horizont stand. In einiger Entfernung sah er eine Ansammlung von Büschen und Sträuchern, mit denen er sich ein Lagerfeuer für die Nacht machen konnte. Hier schlug er sein Lager auf.

 

***

 

Mit den ersten Sonnenstrahlen brach er früh am Morgen auf und erreichte das Dorf noch vor dem Zenit. In diesem Ort schien kein rechter Winkel zu existieren. Die Häuser standen zwar an sich parallel zur Straße, doch die krummen Wände, Fenster und Decken widersetzten sich jeder geradlinigen Geometrie. Die abblätternde Schrift auf einem schief an die Fassade genagelten Holzbrett verriet, dass die hiesige Bar passenderweise direkt gegenüber von dem Nadelturm der Kirche stand. Alkohol und Religion gingen wohl auch hier Hand in Hand.

Als er durch die Türen der Bar schritt, wurde er von einer angenehmen Kühle begrüßt. Das Interieur war größtenteils aus dunklem Holz gezimmert, das durch die Trockenheit gesplittert war. Rund um eine kleine Bühne standen einige Tische. Eine Treppe führte nach oben in den ersten Stock.

„Na, was kann ich dir bringen, Süßer?“, zwitscherte ihm eine beleibte Bardame am Tresen zu.

„Ein Bier und einen doppelten Whisky“, antwortete der Mann mit rauer Stimme.

„Kannst du bezahlen?“ Er nickte und bejahte, indem er mit einer Goldmünze auf den Tresen klopfte. Sie griff unter die Theke und schenkte ihm ein Bier ein. „Was führt dich in unser Dorf? Bist du den ganzen Weg hierher gelaufen? Mein Gott, das müssen ja an die dreihundert Meilen sein, habe noch nie jemanden getroffen, der das geschafft hätte“, schnatterte sie mit Blick auf seine abgewetzte Kleidung drauflos und knallte das Bierglas auf den Tisch, dass der Schaum überschwappte.

„Hat bis jetzt auch niemand versucht“, antwortete er und nahm einen kräftigen Zug von seinem Bier. Sie stutzte beim Einschenken seines Whiskys. „Ich übrigens auch nicht“, er lachte. „Mein Esel ist vor drei Tagen drauf gegangen. Und was mein Ziel betrifft: Ich möchte durch den Wald“, fuhr er fort, nun ernst. Die Bardame stutzte erneut.

„Den Wald?“, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue. Er nickte. „Was willst du denn da? Soweit ich weiß, ist nie jemand zurückgekommen, der reinlief und was auf der anderen Seite ist, weiß niemand“, bemerkte sie. „Und es sind viele gegangen“, fügte sie hinzu und stellte das Whiskyglas vor ihn hin.

„Habe Gerüchte gehört es läge ein Schatz von unbezahlbarem Wert dahinter“, sagte er und trank erneut.

„Gold scheinst du ja schon zu haben, Reisender“, meinte sie auf die Münze deutend. „Dieses ganze Geschwätz von einem Schatz steht mir bis über die Stirn. Das hier“, sagte sie und deutete mit den Händen auf den Saloon. „ist all der Schatz, den ich brauche.

„Für ein warmes Essen und ein Bett bekommst du diesen hier“, sagte er und ließ die Münze zwischen seinen Fingern tanzen. Sie schnaubte amüsiert.

„Kriegst du alles, wenn du mir noch deinen Namen verrätst. Ich mag keine Namenlosen, die bringen Ärger“.

„Bill“

„Rosie. Kannst heute Abend Joe wegen diesen Geschichten ausfragen, der ist eigentlich jeden Tag da“, gab sie ihm als Tipp, aber lass mich damit in Ruhe, schien ihr Blick sagen zu wollen.

 

***

 

Er hatte noch eins von Rosies Steaks mit Kartoffeln gegessen und sich danach auf sein Zimmer begeben, um den Staub abzuwaschen und seine Kleidung zu säubern. Nun saß er auf einem Balkon im ersten Stock und wartete, bis die ersten Dorfbewohner in die Bar kamen. Die Sonne war mittlerweile fast untergegangen, als sich unten die ersten Stimmen bemerkbar machten. Er halfterte seine Pistole und machte sich fertig. Unten angekommen bestellte er ein Bier bei Rosie. „Da vorne sitzt Joe“, informierte sie Bill und deutete auf einen Tisch, an dem gepokert wurde.

Ob er ein paar Runden mitspielen könne, fragte Bill. „Wenn du zahlen kannst“, grinste ihn ein glatzköpfiger, bärtiger Mann an. Sein Name sei Joe, sagte er. „Das hier sind Johnny und Mark“, stellte er einen Mann mit schwarzen Haaren, Schnauzer und einen eher Dünnen mit langen braunen Haaren und einer Nase vor, die so aussah, als hätte er schon mehr als einmal eine rein bekommen. „Texas Hold’em, fünf Dollar small blind“. Bill nickte, die Regeln kannte er. Er verlor zwanzig Dollar in den ersten drei Runden. Aus Höflichkeit, wie er sich selbst sagte, doch er erkannte gute Spieler, wenn er sie sah.

„Was suchst du eigentlich hier, Bill?“, fragte ihn Joe. „Ziemlich weit ab vom Schuss, gibt nur wenige, die hier herwollen. Und die meisten…“

„Ich habe schon viel von eurem Wald gehört und wollte mir selbst ein Bild davon machen. Mir sind auch einige Gerüchte von einem Schatz auf der anderen Seite zu Ohren gekommen“, unterbrach ihn Bill.

Dass es da so einige gäbe, bemerkte Joe und grinste verheißungsvoll in sich hinein. „Warum ist das Dorf so weit vom Waldrand entfernt? Man sollte meinen, dass der Wald Schutz bieten würde und bis dort hinten hat man ihn wohl kaum abgeholzt, oder?“ Full House, 30 Dollar Gewinn.

„Nun ja, Richard wohnt direkt am Rand in seiner Holzfällerhütte… Du musst wissen, das Dorf ist schon dreihundert Jahre alt. Seitdem sich hier die ersten Leute niedergelassen haben, hat sich der Wald vermutlich zurückgezogen“. „Eine Bastion der Einsamkeit ist diese Hütte“, murmelte Johnny, sodass sein Schnauzer zitterte. „Man erzählt, dass sich früher mannshohe Wölfe im Wald herumgetrieben hätten“. „Und so allerlei andere Ungeheuer, wenn man den Geschichten glauben will“, meinte Mark. „Das sind keine Geschichten. Habe selbst mal einen von denen gesehen“, beschwor Joe. „Du wirst doch senil“, witzelte Johnny. Was man sich sonst noch erzähle, fragte Bill.

 

„Es heißt, die Ureinwohner des Waldes hätten ihr Lager einst am Waldrand an einem kleinen Fluss aufgestellt“, begann Joe. „Irgendwann ist ein Weißer dem Fluss nach oben gefolgt, da er kleine Goldnuggets gefunden hatte und der Hoffnung war, weiter oben am Lauf mehr zu finden. Schließlich ist er auf die Ureinwohner gestoßen, die ihr Lager an einer besonders guten Stelle zum Schürfen aufgebaut hatten. Er hat versucht sie zu überzeugen, ihr Lager zu verlegen, doch sie wussten um das Vermögen, das ihr Fluss barg - warum sollte schließlich sonst ein Weißer kommen? - Sie verjagten ihn, doch seine Gier konnte auch nach Monaten der Arbeit weiter unten am Lauf nicht gestillt werden, so wusste er doch, was für Reichtümer ihn weiter oben erwarteten.

Er kam wieder, zusammen mit einem ganzen Trupp gieriger Schürfer, die schon lange den Respekt vor dem Leben verloren hatten. Die Ureinwohner hatten nun selbst begonnen das Gold zu schürfen, und hatten bereits einen großen Teil zu Barren und Schmuck verarbeitet. Die Weißen vertrieben sie, töteten beinahe alle von ihnen. In einer letzten verzweifelten Tat verfluchte der Schamane das Gold, das sie ins Unglück gestürzt hatte, auf dass alle, die je einen Finger daran legten zu Tode verdammt seien.“

„Und was ist mit den Weißen passiert?“, fragte Bill, wie ein Junge, der von seinem Großvater ein Märchen erzählt bekam.

„Als sie von der Gier befallen wurden, wollte jeder von ihnen den Schatz für sich allein beanspruchen und sie brachten sich gegenseitig um. Es war ein Blutbad. Nur einer konnte entkommen. Er flüchtete in den Wald und wurde nie wiedergesehen. Und der Schatz wurde nirgends im Dorf oder dessen Umkreis gefunden“, endete Joe seine Geschichte mit unheilverheißender Mine und grinste mit schiefen, gelben Zähnen.

„Seitdem sind viele gekommen und haben gesucht. Ich war auch mal einer von ihnen, doch habe ich nie den Fehler gemacht, ohne ein langes Seil in den Wald zu gehen, um mich nicht zu verlaufen. Von den Anderen ist keiner zurückgekommen, weder mit noch ohne Schatz. Am Ende bekommt der Wald sie alle.“

„Hat Rosie auch schon gemeint“, sagte Bill, „sie schien aber nicht besonders glücklich darüber zu sein, dass ich das Thema angesprochen habe.“

Nun war es Mark, der müde lächelte. Das läge daran, entgegnete er, dass ihr Vater, als er seine Rechnungen nicht mehr zahlen konnte auch in den Wald hinein ist, als sie noch ein Kind war. „Hoffnung ist der Teufel“, bemerkte Johnny.

„Meint ihr an solchen Geschichten ist etwas dran?“, fragte Bill.

„Naja, diese Geschichte hat beinahe drei Jahrhunderte überdauert, bin mir nicht sicher, ob der Schatz das auch hat, falls es je einen gegeben hat“, antwortete Johnny.

„Und was erzählt man sich sonst noch über den Wald - und viel interessanter - das was dahinter liegt?“, löcherte Bill die drei.

„Vom verheißenen Land bis zur Hölle oder dem Himmel selbst ist alles dabei“, antwortete Johnny. „Du scheinst ja ziemlich versessen darauf zu sein“, meinte Mark. „Bist du auch einer von den Verlorenen?“, runzelte Joe die Stirn. Er nickte schluckend. „Hatte dich gar nicht als so naiv eingeschätzt“, zweifelte Mark.

„Nun ja, von dem Schatz höre ich nicht zum ersten Mal, aber das Gold ist mir neu. Auch, dass es verflucht sein soll, kommt mir hier zum ersten Mal zu Ohren“, antwortete er.

Joe hakte nach: „Ich denke aber nicht, dass du nur auf gut Glück in den Wald hineinspazieren willst. Was erwartest du zu finden? Du siehst nicht aus wie ein Kartograph und besonders gläubig scheinst du mir auch nicht zu sein. Wenn es nicht der Schatz ist, was dann?“

„Ich bin ein Reisender, immer auf Trab“, wich Bill aus. Jetzt, als sie darauf zu sprechen kamen, war es ihm irgendwie peinlich zuzugeben, dass er eigentlich immer nur seinem Bauchgefühl folgte. Er glaubte fest daran, dass wenn er nur lange genug den ersten Gedanken verfolgen würde, er sein Schicksal finden würde, da er jetzt noch lange nicht am Ende angekommen sein konnte.

„Mal zieht es mich hier hin, mal dort hin. In nächster Zeit, meine ich, will ich in den Wald. Und jetzt, vor allem anderen in mein Bett. Ich hatte einen anstrengenden Weg.“

 

„Dann wünsche ich dir viel Glück auf deiner Reise, Junge. Du wirst es brauchen“, sagte Joe.

Mark tippte an seinen Hut und Johnny verabschiedete sich mit einem kargen „Mach’s gut.“

 

***

 

Die nächsten drei Tage verwendete er darauf sich auszuruhen, Bier zu trinken und Proviant einzuteilen. Beim derzeitigen Stand würde er einen Monat, bei strenger Rationierung zwei durchhalten, bis er jagen gehen musste. Mit seinem Kompass konnte er die Richtung halten. Sollte der kaputtgehen, hatte er im hiesigen Werkzeugladen ein Fernglas gekauft, um sich nach den Sternen zu richten, sowie eine Axt, mit der er nachts für Feuer sorgen konnte. Das würde ihm etwaige Bestien vom Leib halten. Auch die Feuersteine und Revolvermunition hatte er aufgestockt. So verabschiedete er sich am vierten Tag von Rosie und Joe, die ihm beide viel Glück wünschten und machte sich auf den Weg.

 

Die Geschichten ließen ihn nicht gerade hoffen, doch wie Johnny schon gesagt hatte, war Hoffnung die Wurzel allen Übels. Sollte er sich nun hoffnungsvoll oder hoffnungslos fühlen? Er wusste es nicht, also warf er eine Münze.

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Kommentare: 3
  • #1

    DanKaizen (Dienstag, 29 Oktober 2019 09:38)

    Mir gefällt der Beginn der Story sehr gut und ich bin gespannt wie sich das ganze entwickelt. Zwei Anmerkung hätte ich noch. Ich fände es interessant noch mehr über Bill zu erfahren Alter, Statur etc.. Allerdings ist das für seine Identität als Suchender nicht unbedingt wichtig also kann ich auch verstehen, wenn du solche Informationen bewusst für einen späteren Moment aufgespart hast. Da der Hauptfokus auf seinem Ziel liegt. Und sein Erscheinungsbild keine Rolle zu diesem Zeitpunkt der Story spielt. Ein weiteres noch Bill verzehrt Pökelfleisch auf seinem Weg durch die Steppe war das damals im Westen so üblich? Weil an sich wären gesalzene Speisen bei Wasserknappheit eher suboptimal als Nahrungsmittel. Andererseits gab es damals wenig andere Möglichkeiten um Lebensmittel haltbar zu machen.
    Ich wünsche einen schönen Tag DK.

  • #2

    DanKaizen (Dienstag, 29 Oktober 2019 09:40)

    PS: Ich war erster;)

  • #3

    Despaired Demiurge - Paul (Mittwoch, 30 Oktober 2019 18:06)

    Lieber DanKaizen,
    freut mich, dass es dir bis hier hin schon einmal gefällt :) Der Hauptfokus liegt tatsächlich eher auf seinem Ziel und der Umwelt, als auf seinem Äußerlichen. Ob das so üblich war, kann ich leider nicht sagen, da waren die Recherchen leider ziemlich unergiebig. Rindfleisch hat einen sehr hohen Proteingehalt, was es für anstrengende Reisen optimal macht, allerdings ist dein Kommentar zu dem Salzgehalt ein guter Einwand.
    Viele Grüße, Paul.