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Herzlos - Teil 3

MaximoFilms @ youtube.com
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Teil 3


Um ihn herum, in eiligem Gewirr, liefen Schatten umher. Sie entstanden aus einem Nebel heraus, bis sie sich verfestigten und für Florian registrierbar waren. Manche kamen heran und hielten einen Augenblick inne, zum Greifen nahe - oder ganz am Rande seiner Wahrnehmung. Andere blieben gar nicht erst stehen, sondern waren so schnell wieder verschwunden, wie Florians Bewusstsein sie zusammengesetzt hatte. Aber sie alle hatten etwas gemeinsam. Immerzu redeten, flüsterten, riefen sie einander etwas zu und deuteten hektisch umher. Gesprächsfetzen drangen durch sein Ohr, auch wenn sie nicht lange genug blieben, als dass er einen kohärenten Sinn aus ihnen hätte formen können. Zugleich meinte er, das Rauschen und Piepsen von Funkgeräten erkennen zu können. Dazu verzerrte, abgehackte Stimmen, die einander Kürzel zuwarfen.

Soweit es ihm durch die leicht geöffneten Augen möglich war, versuchte er die Abläufe zu erfassen und auch sich zu erklären, wenn jemand auf ihn zeigte. Zwar hätte er nicht sagen können wie er sich rechtfertigen wollte, geschweige denn was die Anschuldigung war. Aber er wollte zumindest das Verständnis, die Anteilnahme zeigen, die ihm sein gelähmter Körper verwehrte. Dann war es auf einmal ruhig und auch die Gestalten, die bereits seit Beginn da gewesen waren, lösten sich endgültig im Nebel auf. Endlich konnte er seine Augen ganz öffnen und sich umsehen.

 

Ein karg möbliertes Krankenzimmer empfing seinen Blick. Tja, doch nicht die Hölle, das Nichts oder was auch immer ich mir vorgestellt habe. Florian stützte sich mit den Händen in die Matratze im Versuch, sich aufzusetzen. Doch der Stoff war unnachgiebig und hart wie Asphalt und er selbst zu schwach und noch komplett neben der Spur. Die Farben blieben zwar in ihren Formen, aber alles drehte sich übelkeiterregend. Muss der Wodka sein und der andere Scheiß. Oder was auch immer für einen Medizincocktail sie mir hier verabreicht haben. Zumindest spürte er keinen Schmerz.

Genaugenommen von der Hüfte abwärts gar nichts.

Ein unbekannter Raum und er war verkrüppelt. Hilflos ausgeliefert. Panik machte sich in ihm breit, starb aber im selben Moment wieder ab. Er konnte sich nicht aufregen. Er spürte zwar, dass er in dieser Situation nicht ruhig da liegen sollte und er wollte sich bewegen, sein Blut in Wallung bringen und diese schläfrige Erschöpfung abschütteln. Aber irgendetwas in seinem Körper verweigerte ihm die Aufregung, die Angst und Verzweiflung, das Fühlen selbst. Als würde er nicht tatsächlich dort liegen, sondern im Fernsehen eine Reportage über einen Kriminellen sehen, der ihm erstaunlich ähnlich sah. Irgendeine Art von Beruhigungsmittel musste er bekommen haben, anders konnte er sich nicht erklären weshalb die Situation ihn so kalt ließ. Er zog sich die Plastikmaske vom Gesicht, die ihm das Atmen erleichtert hatte.

 

Er hustete schwach, als die abgestandene Krankenhausluft seine Lungen füllte. Entgegen seiner Erwartung roch sie nach Diesel und Beton, so als wäre das Fenster seines Zimmers auf derselben Höhe mit einer Straße. Zugleich lag ihm aber auch ein chemischer Geschmack auf der Zunge, den er mit Arznei- und Desinfektionsmitteln verband.

Trotz des tauben Gefühls, das fast seinen ganzen Körper beherrschte, spürte er, dass er bei seinem Sturz mehr als nur ein paar gebrochene Knochen davongetragen haben musste. Etwas fühlte sich nicht richtig an in seinem Körper. Es fühlte sich an, als würde er mit jedem Atemzug mehr ersticken. Egal wie viel Luft er einsog, es kam fast nichts an. Als würde er, wie in einem dieser Cartoon-Klischees, unter Wasser versuchen mit einem Plastikstrohhalm seinen gesamten Sauerstoffbedarf zu decken. Nur hatte das dünne Stück Plastik Risse und knickte immer mehr ein bei jedem Atemzug. Florian grapschte nach der Maske auf seiner Brust, bevor ihn sein Bewusstsein wieder verlassen konnte. Gierig wurde die künstlich schmeckende Luft heruntergeschluckt. Das Gefühl des langsamen Ertrinkens wurde schwächer, verschwand aber nicht. Stück für Stück begann der Jugendliche sich an die Gesprächsfetzen zu erinnern, die zuvor die Schatten gemurmelt hatten.

Suizidversuch… feiger Täter… Flüssigkeit in der Lunge… Zu weit unten auf Herztransplantationsliste, unpraktische Blutgruppe dazu‘…“Moment mal?“, dachte Florian und brachte sich in eine aufgerichtete Position. Wieso sollte es sie interessieren, wo ich auf irgend so ‘ner Liste stehe, wenn sie mich eh verurteilen?

 

Während er gedanklich verloren im Raum umherblickte bemerkte er, dass zu seiner linken Seite noch ein weiteres, besetztes Krankenbett stand. Er musste es für leer gehalten haben, weil der Patient stark bandagiert war und abgesehen von einem leichten Heben und Senken seiner Brust sich nichts an ihm bewegte. Sein Gesicht war jedoch irgendwie vertraut. Es war keiner von seinen Freunden, aber definitiv ein anderer Schüler seiner Schule. Noch sich den Kopf zermarternd entdeckte Florian am Boden neben dem Bett seine heißgeliebte Lederjacke. Tss, sie hatten sich noch nicht einmal die Mühe gemacht sie an den Haken zu hängen. Ironischerweise kam ihm genau diese Nachlässigkeit zugute.

Das Stück Stoff war gerade so in Greifweite für ihn. Ein wenig paranoid stülpte er sämtliche Taschen der Jacke aus. Dokus zufolge kam es gar nicht so selten vor, dass Krankenschwestern auf diese Weise versuchten, ihr viel zu geringes Gehalt aufzubessern. Seine Sachen schienen sie immerhin in Ruhe gelassen zu haben. Ein klappbares Taschenmesser mit langer Klinge, eine leere Schachtel Zigaretten, sein Geldbeutel, Bonbonpapiere, sein Handy und sein Ausweis. Nein, ein Ausweis. Sein Geldbeutel war noch voll bestückt mit allen Ausweisen, Bonuskarten und jämmerlichen 73 Cent. Er nahm das eckige Stück Plastik in beide Hände, klappte den Organspendeausweis zur Seite und betrachtete das Foto. Es war der arme Knabe, den er auf dem Gewissen hatte.

‚Martin Steinadler‘, geboren in Aichach 1999, Größe 1,80;

Augenfarbe: grün, Blutgruppe 0.

Tja, sogar im Fall seines Ablebens hat er daran gedacht, wie er jemandem helfen könnte. Organe aus der Blutgruppe müssen wirklich begehrt sein, wenn es zumindest in der Hinsicht schonmal keine Komplikationen mit Abstoßreaktionen geben kann. Er kratzte sich unsicher am Kopf. Oder gilt die Regel mit den verschiedenen Blutgruppen nur bei Bluttransfusionen? So gut hatte er im Biologieunterricht nun doch nicht aufgepasst. Schließlich war mir nur wichtig zu wissen, welches Blut ich vertrage. Er lächelte freudlos.

Eine nicht erklärbare Ruhe hatte von Florian Besitz ergriffen, seitdem er in diesem kargen Krankenhauszimmer aufgewacht war. Ganz so als wäre er noch im Rausch oder bereits tot. Zumindest fühlte es sich an, als würde in diesem Moment die Zeit stillstehen. Seit langem waren seine Gedanken mal wieder geordnet und klar. Kein innerer Stress, nur Ruhe. Wegrennen war nun komplett außer Frage und der andere Weg hatte sich auch als Holzweg entpuppt.

Scheiße! Wenn dieser Streber nur nicht so schwach gewesen wäre, wäre nichts passiert. Man hätte ihn vielleicht von der Schule geworfen, zum x-ten Mal, oder Anzeige erstattet, aber er wäre nicht auf das verdammte Dach geklettert und hier gelandet. Und damit wärst du zufrieden gewesen? So einer erbärmlichen Existenz, die davon lebt andere zusammenzustauchen? Ein Parasit, der etwas von dem Erfolg anderer stiehlt, weil er selbst nichts erreichen kann? Eine boshafte Stimme flüsterte abfällig in seinem Kopf. Er konnte sich nicht aufregen und ihr das Gegenteil beweisen, ihr nicht Widerworte entgegenbrüllen oder sie betäuben. Er musste der Wahrheit zuhören, die er schon lange kannte und ignoriert hatte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihn seine verdorbene Lebensweise einholen würde.

In Form von Bullen und Mediengewitter, verstand sich. Die verdammten Medien.

Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie sie seinen Vater vor laufender Kamera ausnehmen würden. Zu seinem Sohn und seiner misslungenen Erziehung. Wie es sich denn anfühle der Vater eines Mörders zu sein. Und auch noch der eines Selbstmörders. Ob er nicht Schuldgefühle habe, sich schäme? Zum Kotzen. Sein Blick wanderte erneut zum Zimmernachbarn. Was genau er wohl hat? Es musste etwas richtig abgefucktes sein, wenn die Transplantationsliste bereits seine größte Chance darstellte.

Dann kapierte Florian es.

Wenn er die Kraft gehabt hätte und sein Gesicht nicht von der Atemmaske bedeckt gewesen wäre, hätte er sich beidhändig eine geklatscht. Es war geradezu schmerzhaft offensichtlich. Sein Bettnachbar war zugleich sein Mitschüler, Opfer und nun auch Leidensgenosse. Martin Steinadler. Ein sarkastischer Wink des Schicksals. Mit dem Mittelfinger.

Halt, halt. Ich habe doch den Bericht über seinen Tod gesehen. Das schwarz-weiße Bild im Fernsehbericht und wie seine armen Eltern von der Sensationspresse bedrängt wurden. Wieso zum Fick sollte man einen Lebenden bereits für tot erklären? Davon hätte doch niemand etwas. Oder doch? Er knirschte mit den Zähnen als sich ihm erschloss, was vorgefallen sein musste. Diese verdammten Bastarde. Sie haben ihn direkt für tot erklärt, weil seine Chancen gegen Null gehen. Klar, ‚Junge von Mobber gekillt‘ verkauft sich deutlich besser als ‚Junge im Krankenhaus‘. Oder sie haben noch nicht einmal abgewartet, und direkt nach der ersten Meldung den Rest ihrer ganz eigenen Wahrheit erfunden. Schamlose Ausschlachtung. Nicht dass er es bisher anders von den Medien mitbekommen oder erwartet hätte. Trotzdem wurde ihm schlecht, als er darüber nachdachte. Eigentlich wollte er sich gar nicht vorstellen wie viel Leid solche in die Welt hinausposaunten Halbwahrheiten Leuten antun mussten. Dieses widerwärtige Herumbohren in den Wunden der Angehörigen bis sie irgendwann unter all dem Sensationsdruck zusammenbrachen. Und dann werden sie von den Medien im Kehricht des Aufruhrs zurückgelassen.

Das habe ich noch aus erster Hand mitbekommen müssen, wie sie die Krankheit meiner Mutter ausgenutzt haben. Ich habe es nicht verstanden und konnte ihr auch nicht verzeihen. Aber an ihrer Stelle hätte ich es auch nicht überstanden, auch ohne mental angeknackst zu sein. Oder hätte es wie sie lieber frühzeitig beendet. Er schüttelte den Kopf. Nein, so kann ich es nicht enden lassen. Solange ich noch atme, soll mein Leben auch einen Sinn haben. Auf meine Leiche können sich die anderen ruhig stürzen sobald ich tot bin, was davor noch ist gehört mir.

 

Er betrachtete erneut den Ausweis in seiner Hand. Schon komisch, wie viel Leben auf so ein Stück Plastik passt. Oder zumindest danach. Das bin ich ihm wohl bei einer Verkettung von solch unmöglichen Ereignissen fast schuldig. Plus, wenn ich ungnädigerweise nicht an meinen Verletzungen umkomme, sieht die Zukunft für mich noch düsterer aus als bisher. Jugendknast, vielleicht Verwahrung bis ins Erwachsenenalter und dann richtiger Knast. Nein danke. Dann lieber ein schneller Abgang und ein letztes 'Fick dich' an die Welt. Er griff nach seinem Handy und tippte eine Nachricht ein. „Ich weiß, ich bin hier in kaum einer Position, um Forderungen zu stellen. Aber wenn ihr das lest, werde ich bereits tot sein, also seht es als meinen letzten Willen. Bitte, gebt meinem Nachbarn mein Herz. Ich bin schuld an seinem Zustand und deswegen ist es nur fair, wenn er meines bekommt. Finde ich. Versucht nicht mich wiederzubeleben. Letztlich liegt es aber natürlich bei euch.“ Er stellte einen Handywecker mit seinem üblichen Klingelton, seinem Lieblingssong, und legte es gut sichtbar auf seine Brust.

Er kramte aus dem Geldbeutel seinen Ausweis und legte ihn zu dem anderen. Fest in einer Hand. Schließlich klappte er die Schneide seines Taschenmessers aus, holte tief Luft und durchtrennte ruckartig den Schlauch des Beatmungsgeräts zu seiner Maske. Zur Sicherheit stach er noch ein paar Mal auf das Gerät selbst ein. Wie zu erwarten, wurde die Luft wieder dünn, das Ertrinken setzte ein, und die Maschine funkelte in dutzenden Warnmeldungen und begann panisch zu piepen. Er kappte unter großer Anstrengung und weitem Vorlehnen die Stromkabel. Sie dürfen mich nicht finden. Noch nicht. Und dann lag er dort. Und spürte, wie ihm sein Bewusstsein mit jedem keuchenden Atemzug mehr entglitt. Immer mehr die Dunkelheit an seinen Augenwinkeln leckte, bis es schließlich ganz schwarz um ihn wurde. In der Ferne waren die Sirenen von Krankenwagen zu hören.

 

 

Doch das Letzte, was er mitbekommt sind die stumme Vibration seines Handys und das Geräusch von trommelnden Schritten in seinem Ohr. Florians Handy beendet ein letztes Schlagzeugsolo, bevor es aufhört zu vibrieren, und verstummt. Die Augen des Jugendlichen blicken blind gen Himmel, bevor sie endgültig erlöschen. Den Kopf auf dem Asphalt, stirbt der Jugendliche mit einem aufrichtigen Lächeln auf den Lippen und dem fremden Ausweis in der Hand.

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